

Quelle: Havadis Leser
Foto: Freepik
Autor: Bülent Güven
Datum: 08/02/2025
Kategorie: Deutschland
Angela Merkel zuhören…
Angela Merkel ist, abgesehen vom Gründungskanzler Deutschlands Otto von Bismarck (1871-1890), die Politikerin, die am längsten als Bundeskanzlerin gedient hat. Sie gewann vier Wahlen in Folge und führte 16 Jahre lang die Regierung, bevor sie ihr Amt im Jahr 2021 freiwillig an den amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz übergab.
Nachdem sie Anfang dieses Jahres ihre Memoiren veröffentlicht hatte, begann sie, sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern Interviews und Vorträge zu halten. In diesem Zusammenhang nahm sie an einer Diskussion in Hamburg teil, die von der intellektuellsten Zeitung Deutschlands, der “Die Zeit”, organisiert wurde. Dadurch hatte ich die Gelegenheit, sie live zu hören. Zwei erfahrene Journalisten von “Die Zeit”, Roland Plettner und Miriam Lau, stellten ihr rund zwei Stunden lang ernsthafte Fragen, die sie zu beantworten versuchte.
Das Zuhören ehemaliger Staatsoberhäupter ist oft sowohl unterhaltsam als auch erhellend. Sie verfügen über eine enorme Erfahrung und können offener sprechen, da sie keine politischen Rücksichten mehr nehmen müssen. Ich hatte zuvor auch die Gelegenheit, die ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder zu hören, was ebenfalls sehr aufschlussreich war.
In der öffentlichen Wahrnehmung genießt Merkel sowohl in Deutschland als auch weltweit generell ein positives Image. Doch wenn man ihre Amtszeit genauer unter die Lupe nimmt, erscheint diese Einschätzung weniger eindeutig.
Seit dem Zweiten Weltkrieg haben insgesamt neun Personen, einschließlich des amtierenden Bundeskanzlers Olaf Scholz, Deutschland regiert. Dass in einem Zeitraum von 80 Jahren nur so wenige Kanzler im Amt waren, zeugt von Stabilität in Deutschland.
Mit Ausnahme von Georg Kiesinger, der nur kurz zwischen 1966 und 1969 Kanzler war, haben alle anderen Kanzler sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik bleibende Spuren hinterlassen.
Konrad Adenauer, der erste Kanzler nach dem Zweiten Weltkrieg, leitete mit Wirtschaftsminister Ludwig Erhard die soziale Marktwirtschaft ein, die die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands förderte und extreme Ungleichgewichte verhinderte. In der Außenpolitik führte er Deutschland in das westliche Bündnis unter US-Führung und schützte es so vor der sowjetischen Bedrohung.
Auch die anderen Kanzler setzten bedeutende politische Maßnahmen um: Willy Brandts Ostpolitik, Helmut Schmidts Rolle bei der Gründung der G7 und den Grundlagen des Euro, Helmut Kohls Vereinigung Deutschlands, Schröders unabhängige Außenpolitik während des Irakkriegs und seine Agenda-2010-Reformen, die später wirtschaftlichen Nutzen brachten, sind Meilensteine.
Sogar Olaf Scholz, der erst seit drei Jahren im Amt ist, hat mit der Bereitstellung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für militärische Ausgaben und einem ehrgeizigen Energiewende-Programm von über 5 Billionen Euro bereits bedeutende historische Schritte unternommen.
Eine der Fragen, die mir während Merkels Rede durch den Kopf ging, war: Welches bleibende positive Erbe hat Merkel nach 16 Jahren Kanzlerschaft hinterlassen? Diese Frage stellte auch der Journalist Roland Plettner. Nach kurzem Zögern nannte Merkel die Rettung des Euro während der globalen Finanzkrise 2007 als ihre größte Errungenschaft.
Tatsächlich erlebte der Euro damals seine erste große Krise, und die Auflösung der Währung, insbesondere durch die griechische Finanzkrise, wurde intensiv diskutiert. Allerdings war es weniger Merkel als vielmehr Mario Draghi, der damalige Präsident der Europäischen Zentralbank, der mit seinem berühmten Satz “Whatever it takes” den Euro rettete, indem er die Märkte beruhigte und das Vertrauen wiederherstellte.
Merkel hingegen spielte nur eine beruhigende Rolle auf nationaler Ebene, indem sie die Sicherheit deutscher Bankeinlagen betonte. Somit ist es realistischer, den Erfolg der Euro-Rettung Draghi und der EZB zuzuschreiben.
Obwohl Deutschland unter Merkel stabil erschien, war diese Stabilität eher ein Ergebnis der von Gerhard Schröder eingeführten Reformen als eine eigene Leistung Merkels.
Ihre Regierungen führten kaum bedeutende innenpolitische Reformen durch. In der Außenpolitik fielen jedoch wichtige Entwicklungen in ihre Amtszeit: die Annexion der Krim durch Russland 2014, der Brexit und der Verlust der EU-Beitrittsperspektive der Türkei. Merkel hätte den Brexit verhindern können, was wirtschaftliche und politische Einbußen für die EU verhinderte.
Besonders fatal war die Abkehr der EU von der Türkei ohne Alternativen wie eine privilegierte Partnerschaft, was auf ein mangelndes geopolitisches Gespür Merkels hinweist.
Auch gegen die NATO-Erweiterungsperspektive für die Ukraine und Georgien, die Russland provozierte, hätte Merkel entschiedener auftreten können.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Merkels Amtszeit von innenpolitischer Stagnation und einer eher reaktiven Außenpolitik geprägt war.
Zudem galt Merkels Politik als zu liberal für ihre eigene Parteibasis, was dazu führte, dass konservative Wähler sich entfremdet fühlten. Tatsächlich wurde die rechtspopulistische AfD während ihrer Kanzlerschaft gegründet, und viele ihrer Führungspersönlichkeiten waren ehemalige CDU-Mitglieder. In gewisser Weise war die AfD eine Reaktion auf Merkels Politik.
So erreichte die AfD bei den Wahlen 2021, als Merkel ihr Amt aufgab, mehr als 10 % der Stimmen. Indirekt trug sie also zum Aufstieg der extremen Rechten bei.
Merkel ist zweifellos eine außergewöhnlich kluge Person mit einem Doktortitel in Physik. Ihre ehemaligen Minister und Beamten betonen, dass sie eine akribische Arbeitsweise hatte und sich intensiv mit Themen auseinandersetzte. Dennoch blieb sie in Bezug auf dringend notwendige Reformen zögerlich.
Mein Eindruck ist, dass Merkel ein zu hohes Risiko-Vermeidungsverhalten zeigte. Sie war keine Politikerin, die entgegen der öffentlichen Meinung mutige Entscheidungen traf. Es wurde oft berichtet, dass sie stets Meinungsumfragen berücksichtigte und unpopuläre Entscheidungen mied.
Ein weiterer Grund könnte sein, dass ihr sozialwissenschaftliches Wissen nicht ausreichte, um visionäre Einschätzungen vorzunehmen. Auch ihre Erklärungen in Hamburg bestätigten diesen Eindruck.
Trotz aller Kritik war Merkel jedoch eine Politikerin, die aufrichtig an Freiheit und Demokratie glaubte – sicherlich auch beeinflusst durch ihre Erfahrungen in der repressiven DDR.