

Quelle: Havadis
Foto: Freepik
Autor: Pelin Santor
Datum: 07/07/2025
Kategorie: Allgemein
Das Fieber der Zeit: Werden die vergessenen Seiten der Geschichte neu aufgeschlagen?
Auch die Geschichte hat ein Fieber. Ein Fieber, das mal wie eine Glut im Verborgenen schwelt, sich in den Tiefen der Gesellschaften ansammelt, und mal mit einer Hitze, die den ganzen Planeten erfasst, plötzlich auflodert. Dieses Fieber zeigt sich zuerst in Form einer Seuche, die den menschlichen Körper befällt, facht dann mit einer Wirtschaftskrise, die die Existenzen verbrennt, weiter an und entfaltet sich schließlich mit Kriegen, die den Geist der Zivilisationen entzünden, zu einem flächendeckenden Brand.
Sind die kollektive Erschöpfung, die wir heute auf unseren Schultern spüren, der getrübte Blick in die Zukunft und jene unbestimmte Angst, die den Alltag durchdringt, vielleicht ein Vorbote dafür, dass das Fieber des Planeten ein Jahrhundert später erneut ansteigt? Es ist, als würden sich die Seiten jenes dunklen Geschichtsbuches, das wir vergessen und ins staubigste Regal der Bibliothek verbannt zu haben glaubten, eine nach der anderen im Wind aufschlagen.
Die COVID-19-Pandemie, die sich wie ein Gespenst über die ganze Welt legte, führte unser Gedächtnis ein Jahrhundert zurück zur Spanischen Grippe von 1918. Genau wie damals erlebten wir die Hilflosigkeit der Menschheit angesichts eines unsichtbaren Feindes, die soziale Isolation durch Quarantänen, die Angst hinter den Masken und den plötzlichen Umsturz des täglichen Lebens. Die Zeitungen jener Tage scheinen die Empfehlungen der heutigen Wissenschaftsräte widerzuhallen, vom Gebrauch von Taschentüchern beim Husten bis zur Meidung von Menschenmengen. Der Aufschrei eines Journalisten aus Istanbul während der Spanischen Grippe – „Sie kennt keine Gnade, kein Erbarmen … Sie hat eine Generalmobilmachung ausgerufen und nimmt jeden mit, der ihr in den Weg kommt“ – wie sehr ähnelt er den modernen Tragödien auf den Intensivstationen der Welt. Die Seuche erschütterte nicht nur die Körper, sondern auch die Wirtschaft und die gesellschaftliche Psyche zutiefst. Genau wie heute kam auch damals die Produktion zum Erliegen, Lieferketten rissen und die Ungewissheit wurde zur größten Epidemie von allen.
Die wirtschaftliche Erschütterung, die unmittelbar auf die Seuche folgte, verstärkt dieses unheimliche Gefühl des Déjà-vus noch weiter. Wenn wir heute von „Wirtschaftskrise“ sprechen, denken wir zuerst daran, wie sehr die Lieferketten am seidenen Faden hängen, wie sich Containerschiffe in den Häfen stauen und wie das Monster der Inflation unsere Kaufkraft über Nacht zunichtemacht. Dieses Bild erinnert unweigerlich an den Albtraum der Hyperinflation im Deutschland der 1920er Jahre, in der Weimarer Republik. Es wird erzählt, dass die Menschen Schubkarren voller Geld transportierten, um einen Laib Brot zu kaufen, dass Gehälter innerhalb eines Tages dahinschmolzen und Ersparnisse sich über Nacht in Luft auflösten. Die Worte eines deutschen Bürgers, „Unsere Versicherungspolicen waren nicht einmal mehr das Papier wert, auf dem sie geschrieben standen“, sind ein bitteres Zeugnis dafür, wie das Vertrauen in Geld und Institutionen erschüttert wurde. Dieser wirtschaftliche Zusammenbruch leerte nicht nur die Brieftaschen, sondern radikalisierte auch die Seelen und bereitete den Boden für eine der dunkelsten Seiten der Geschichte: einen neuen Weltkrieg. Öffnen nicht auch heute die steigenden Lebenshaltungskosten, die sich vertiefenden Ungleichheiten und das schwindende Zukunftsvertrauen den Weg für populistische und radikale Diskurse, indem sie das soziale Gefüge beschädigen?
Und die Kriege… Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert, das im Schatten zweier großer Weltkriege stand. Was bereitete diese Kriege vor? Das koloniale Wettrennen infolge der Industrialisierung, die durch nationalistische Strömungen geschürten Feindseligkeiten, das gestörte Machtgleichgewicht und ein Funke, der einen ganzen Wald in Brand setzte… Das Feuer, das heute in den Weizenfeldern der Ukraine brennt, ist nicht nur ein regionaler Konflikt, sondern ein Bruch einer tektonischen Platte, der das globale Machtgefüge erschüttert und Energie- sowie Nahrungsmittelkrisen auslöst. Genau wie in der Vergangenheit testen sich die Großmächte gegenseitig mit Stellvertreterkriegen und geopolitischen Manövern. Die endlosen Spannungen im Nahen Osten, die zunehmende Anspannung im asiatisch-pazifischen Raum – all das deutet darauf hin, als ob ein neuer Akt des alten „Großen Spiels“ aufgeführt wird.
Aber ist all dies eine simple Wiederholung der Geschichte? Es ist an der Zeit, an die Türen der Philosophen zu klopfen. Ibn Khaldun verglich Zivilisationen mit einem lebenden Organismus; sie werden geboren, entwickeln sich, altern und zerfallen schließlich. Für ihn ist Geschichte nicht die Wiederholung von Ereignissen, sondern die Wiederholung der Ursachen, die diese Ereignisse hervorbringen. Vielleicht erleben wir gerade die Neuinszenierung ähnlicher Gefühle der „Asabiyya“ – also der Dynamiken von sozialem Zusammenhalt und Konflikt – in unterschiedlichen Geografien und mit anderen Kostümen. Auch Giambattista Vico sah die Geschichte als eine zyklische Spirale; das Zeitalter der Götter, das Zeitalter der Helden und das Zeitalter der Menschen folgen aufeinander, und der Zusammenbruch des letzten bereitet den Beginn des neuen vor. Nietzsches erschütternde Idee der „ewigen Wiederkunft“ legt uns eine noch persönlichere Verantwortung auf: Lebe dein Leben so, als ob du es unendlich oft wieder leben müsstest. Wenn unsere Gegenwart wie eine Wiederholung der Vergangenheit erscheint, liegt es im Willen des Menschen, diesen Kreislauf zu durchbrechen oder einen besseren zu schaffen. Arnold Toynbee wiederum knüpfte das Schicksal der Zivilisationen an ihre „Antworten“ auf die „Herausforderungen“, mit denen sie konfrontiert wurden. Die Herausforderungen mögen ähnlich sein, aber die gegebenen Antworten bestimmen das Schicksal.
Ja, die heutige Welt trägt die Echos eines vergangenen Jahrhunderts in sich. Der Schatten von Seuchen, Wirtschaftskrisen und Kriegen liegt über uns. Doch diese Reflexionen im Spiegel der Geschichte sind gebrochen und fragmentiert. Die Welt ist nicht mehr dieselbe. Unsere Technologie, unsere Kommunikationsmöglichkeiten, unsere globale Integration und vielleicht auch die Lehren, die wir aus den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit gezogen haben, sind anders.
Die eigentliche Frage ist nicht, ob sich die Geschichte wiederholt, sondern was wir aus diesen Wiederholungen lernen. Die Weisheit der Geschichte ist kein Orakel zur Vorhersage der Zukunft, sondern ein Leitfaden, um die Gegenwart tiefer zu verstehen und weisere Entscheidungen zu treffen. Auf diese alten, neu aufgeschlagenen Seiten zu blicken und in Verzagtheit zu verfallen, ist eine Option. Aus diesen Seiten zu lernen und das Ende des Buches besser zu schreiben, ist die andere. Die wahre Prüfung für den Menschen und die Zivilisation liegt genau in dieser Wahl.