

Quelle: Havadis
Foto: Freepik
Autor: Burhan Güleryüz
Datum: 03/06/2025
Kategorie: Allgemein
Die M/S Estonia-Katastrophe: Eine Anatomie der Tragödie und das „Estonia-Fähren-Syndrom“
Die Katastrophe des Untergangs der M/S Estonia in der Ostsee am 28. September 1994 zählt aufgrund der tragischen Anzahl der Verlorenen zu den prägendsten Schiffsunglücken des 20. Jahrhunderts. Die Diskussionen und Behauptungen rund um den Unfall halten das Ereignis bis heute in den Schlagzeilen.
Die kurze, aber stürmische Geschichte der M/S Estonia
Das Schiff wurde 1980 in der Meyer Werft in Papenburg, Deutschland, gebaut. Es diente zunächst unter den Namen M/S Viking Sally (1980–1990), dann MS Silja Star (1990–1991) und MS Wasa King (1991–1993), bevor es 1993 von Estline Marine Co. Ltd. gekauft und in M/S Estonia umbenannt wurde. Als größtes estnisches Schiff seiner Zeit symbolisierte es gewissermaßen die Unabhängigkeit Estlands, das als erstes Land nach dem Zerfall der Sowjetunion seine Freiheit erlangte.
Der Untergang des Schiffes und die Such- und Rettungsaktionen
Die Katastrophe ereignete sich am 28. September 1994, als die M/S Estonia um 19:00 Uhr vom Hafen Tallinn in Estland ablegte, um den Hafen Stockholm in Schweden zu erreichen. Zwischen 00:55 und 01:50 Uhr Ortszeit sank das Schiff in der Ostsee. Laut Fahrplan hätte die Ankunft in Stockholm am nächsten Tag um 09:30 Uhr erfolgen sollen.
Von den insgesamt 989 Personen an Bord (803 Passagiere und 186 Besatzungsmitglieder) kamen 852 Menschen ums Leben. Lediglich 137 Passagiere konnten durch eine Operation gerettet werden, an der Schiffe in der Nähe und Such- und Rettungshubschrauber beteiligt waren. Leider konnten nur 95 Leichen geborgen werden. Die stürmischen Wetterbedingungen erschwerten die Such- und Rettungsmaßnahmen erheblich und trugen maßgeblich dazu bei, dass ein Anstieg der Todesopfer nicht verhindert werden konnte.
Untersuchungsergebnisse zur Unglücksursache
Der offizielle Bericht der Internationalen Unfalluntersuchungskommission (JAIC) basierte auf Untersuchungen, die von der norwegischen Firma Rockwater A/S mittels ferngesteuerter Unterwasserfahrzeuge (ROVs) und Tauchern durchgeführt wurden. Dem Bericht zufolge war die Hauptursache des Unfalls, dass die Bugvisierverriegelung durch die Wucht der Wellen brach und das Bugvisier sich vom Rest des Schiffes löste, gefolgt von einer Fehlfunktion der Rampe. Das Eindringen von Wasser auf das Fahrzeugdeck und der Freie-Oberflächen-Effekt, der bei Schiffen dieses Typs besonders wichtig ist, führten dazu, dass das Schiff schnell kenterte und sank.
Als Ergebnis der Untersuchung konnte das Bugvisier am 18. Oktober 1994 1560 Meter westlich des Wracks in 70 Meter Tiefe gefunden werden. Mitte November 1994 wurde es aus dem Wasser geborgen, nach Hanko in Finnland gebracht, später 1999 ins Schwedische Seefahrtsmuseum und anschließend zum schwedischen Marinestützpunkt auf der Insel Muskö überführt.
Lehren aus dem Unfall: Das „Estonia-Fähren-Syndrom“
Diese Tragödie hinterließ nicht nur tiefe Spuren in der Seefahrtsgeschichte, sondern lieferte auch eine eindringliche Lektion über die menschliche Psychologie. Interessanterweise befand sich die Fähre zum Zeitpunkt ihres Untergangs in unmittelbarer Küstennähe, und 98 % der Passagiere an Bord, die im Wasser lagen und zur Seite kippten, konnten schwimmen. Die Frage ist also: Wie starben 852 Passagiere?
Die Fähre begann in der Nacht des 28. September um 00:30 Uhr aufgrund starker Wellen Wasser aufzunehmen. Mit zunehmender Wassermenge wurde sofort die Evakuierung eingeleitet. Doch von den 987 Passagieren konnten nur 137 die Fähre verlassen und gerettet werden. Die restlichen 852 Passagiere ließen sich von den Worten des Kapitäns, „Sehr geehrte Passagiere, bitte bewahren Sie Ruhe; Sie befinden sich auf der stärksten Fähre der Welt“, blenden und begannen, die Wasserabpumpvorgänge neugierig zu beobachten.
Mit fortschreitenden Stunden neigte sich die Fähre weiter zur Seite, doch die 852 Passagiere sahen weiterhin zu. Um 01:50 Uhr versank die M/S Estonia vollständig in den Fluten. Dass 852 Passagiere zusahen, wie die Fähre Wasser aufnahm und zur Seite kippte, ohne das Schiff bis zur letzten Sekunde zu verlassen, hat in der Psychologie als „Estonia-Fähren-Syndrom“ Einzug gehalten. Die Psychologie hat bis heute keine schlüssige Erklärung für dieses Verhaltensmuster gefunden. Dieses Syndrom ist ein erschreckendes Beispiel dafür, wie übermäßiges Vertrauen in Autoritäten, Verleugnung oder kognitive Dissonanz das menschliche Verhalten in Momenten der Gefahr beeinflussen können.