

Quelle: Havadis
Foto: Freepik
Autor: Pelin Santor
Datum: 09/06/2025
Kategorie: Deutschland
Die Wiederholung der Geschichte oder ein neuer Akt? Die deutsch-russischen Beziehungen
Die Betrachtung der Geschichte ist ein unvermeidlicher Akt, wenn wir versuchen, Antworten auf die komplexen Fragen unserer Zeit zu finden. Denn die Menschheit besitzt die Fähigkeit, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen und die Zukunft zu gestalten. Die Frage, ob Russland eine Bedrohung für Deutschland darstellt, sollte daher nicht nur anhand der heutigen geopolitischen Lage, sondern auch im Rahmen des alten und komplexen Beziehungsgeflechts zwischen diesen beiden Ländern untersucht werden.
Heraklit, der antike griechische Philosoph, sagte einst: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Dies unterstreicht die Unausweichlichkeit des Wandels. Doch manchmal, auch wenn sich das Flussbett ändert, tragen die Richtung und die Kraft des Wassers die Spuren der Vergangenheit in sich. Die Beziehung zwischen Deutschland und Russland ist ein solches Beispiel. Sie erstreckt sich über eine lange und komplizierte Geschichte, von zaristischen Heiratsverbindungen und Kriegen bis hin zu wirtschaftlichen Kooperationen und ideologischen Konflikten.
Der nach dem Ersten Weltkrieg unterzeichnete Friedensvertrag von Brest-Litowsk beendete zwar die Feindseligkeiten zwischen den beiden Ländern, doch war dies nur eine vorübergehende Atempause. Später führte die Operation Barbarossa, der von Nazi-Deutschland gegen die Sowjetunion begonnene Angriff, zu einem der größten Militäroperationen der Geschichte und kostete Millionen von Menschen das Leben. Diese Periode zeigte, wie zerbrechlich selbst pragmatische Allianzen wie der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt angesichts ideologischer und geopolitischer Ambitionen sein können.
Die Zeit des Kalten Krieges teilte Deutschland in zwei Hälften: ein östliches Deutschland unter russischer Kontrolle und ein westliches Deutschland, das sich dem Westen zuwandte. Dieser Zustand verdeutlichte, wie geografische Trennung und ideologische Unterschiede das menschliche Leben durchdringen können, ähnlich wie in Jean-Paul Sartres Philosophie „Die Existenz geht der Essenz voraus“. Während des Wiedervereinigungsprozesses schien die Illusion zu bestehen, dass Deutschland Russland durch „Osmose“ demokratisieren könnte. Diese Illusion wurde jedoch mit dem Einmarsch in die Ukraine zu einer bitteren Realität.
In der heutigen Zeit machen deutsche Politiker deutlich, dass sie Russland als die „größte Bedrohung“ für ihre Sicherheit ansehen. Äußerungen des deutschen Kanzlers Friedrich Merz in diese Richtung spiegeln nicht nur eine politische Haltung wider, sondern auch eine aus historischen Erfahrungen resultierende Besorgnis. Die militärische Unterstützung für die Ukraine, „Kriegsdrohungen“ aus Russland und Deutschlands Vorbereitungen für Schutzräume sind konkrete Ausdrucksformen dieser Bedrohungswahrnehmung.
Russlands geopolitische Strategien umfassen ein breites Spektrum, von der Dritten Rom-Theorie bis zum Eurasismus, vom Aufbau militärischer Kapazitäten bis zum Streben nach globalem Einfluss. Diese Strategien können als Teil eines Versuchs interpretiert werden, ein alternatives Machtgleichgewicht gegen die westliche Hegemonie herzustellen. Die Ungewissheit und die Sicherheitsbedenken, die dieser Anspruch für Nachbarländer wie Deutschland mit sich bringt, dürfen jedoch nicht ignoriert werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Antwort auf die Frage „Ist Russland eine Bedrohung für Deutschland?“ von der Komplexität unserer gegenwärtigen Zeit geprägt ist. Die Geschichte lehrt uns den zyklischen Charakter von Feindschaften und Kooperationen, doch jeder neue Zyklus birgt seine eigenen einzigartigen Dynamiken. Das heutige Deutschland hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, seine Verteidigungsfähigkeiten gestärkt und seine Beziehungen zu Russland auf eine vorsichtige Grundlage gestellt. Doch die Spannung zwischen „Wirklichkeit“ und „Erscheinung“, die seit Platons Ideenlehre besteht, prägt auch weiterhin die internationalen Beziehungen. Die Wahrnehmung einer Bedrohung hängt nicht nur von militärischen Fähigkeiten ab, sondern auch von Absichten und deren Interpretation. Daher werden die in der kommenden Zeit zu ergreifenden Schritte und die Frage, ob gegenseitiges Vertrauen wiederhergestellt werden kann, den Verlauf der Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestimmen. Vorerst jedoch erscheint Russland für Deutschland nicht nur als historische Belastung, sondern als konkretes Sicherheitsrisiko am Horizont.