

Quelle: Havadis
Foto: Freepik
Autor: Bülent Güven
Datum: 17/04/2025
Kategorie: Deutschland
Steigt die deutsche Bedrohung wieder auf?
Der US-amerikanische Stratege Eliot Cohen betonte in einem Interview mit dem deutschen Handelsblatt über die Beziehungen zwischen den USA und Europa in der Zeit nach einer möglichen Präsidentschaft Trumps, dass Deutschland nun die durch einen möglichen Rückzug der USA aus Europa entstehende Sicherheitslücke füllen müsse. Um die neue Position Deutschlands zu erläutern, sagte er zu den Deutschen: ‘Ihr Deutschen hattet eine Erlaubnis von der Geschichte, diese Erlaubnis ist abgelaufen.’
In diesem Sinne erklärte Cohen, dass Deutschland nun stärker aufrüsten müsse und dieses aufgerüstete Deutschland eine größere Rolle in der europäischen Sicherheit übernehmen müsse.
Ja, die Deutschen waren in der Tat seit dem Zweiten Weltkrieg von der etablierten Ordnung der westlichen Welt in Bezug auf militärische Stärke ‘beurlaubt’ worden.
Der Grund dafür waren der Erste und der Zweite Weltkrieg, die von Deutschland verursacht wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland von der Sowjetunion und der von den USA angeführten westlichen Welt in zwei Teile geteilt und versucht, unter Kontrolle zu halten.
Der westliche Allianz erlaubte der unter ihrer Kontrolle stehenden Bundesrepublik Deutschland bis 1954 nicht, eine Armee aufzustellen.
Nachdem die sowjetische Bedrohung jedoch zunahm, wurde ab diesem Zeitpunkt die Wiederaufstellung der deutschen Armee erlaubt.
Trotzdem wurde Deutschland nicht erlaubt, wie Großbritannien und Frankreich eine Atommacht in Europa zu werden.
Das Ereignis, das die Wiederbewaffnung Deutschlands scheinbar auf die Tagesordnung brachte, war neben dem Ukraine-Krieg und der aggressiven und expansionistischen Politik Russlands gegenüber Europa die Wahl Trumps. Damit einher ging die – eigentlich schon unter Obama begonnene – Verlagerung der Priorität der USA auf die Eindämmung und das Gleichgewicht Chinas, die eine schnellere Verlagerung der militärischen Kräfte in den Pazifik und einen schnelleren Rückzug aus Europa zur Folge hatte, was Deutschland zur Aufrüstung zwingt.
Deutschland zog aus dieser neuen Situation eine Lehre und beschleunigte unmittelbar nach dem Ukraine-Krieg den Rüstungsprozess, indem es zu seinen jährlichen Militärausgaben von 70 Milliarden Euro einen Sonderhaushalt von 100 Milliarden Euro auflegte.
Die Andeutungen Trumps, Europa im Falle eines möglichen russischen Angriffs nicht zu schützen, führten dazu, dass fast alle europäischen Länder, allen voran Deutschland, höhere Militärbudgets für Verteidigungszwecke aufstellten.
Deutschland jedoch beschloss in diesem Sinne, sowohl seines historischen Verantwortung bewusst als auch ausgehend von der Tatsache, dass es im Falle eines möglichen russischen Krieges eines der Zielländer sein würde, seine Militärausgaben in astronomischem Ausmaß zu erhöhen.
Nach den Wahlen vom 23. Februar änderte die neue deutsche Regierung unter dem Vorsitz von Friedrich Merz noch vor ihrem Amtsantritt im Mai den die Kreditaufnahme Deutschlands beschränkenden Verfassungsartikel und öffnete damit den Weg für unbegrenzte Militärausgaben.
Gemäß der neuen Verfassung kann Deutschland für Militärausgaben, die ein Prozent des BIP übersteigen, unbegrenzt Kredite aufnehmen.
Demnach strebt Deutschland an, seine derzeitigen jährlichen Militärausgaben von 70 Milliarden Euro innerhalb der nächsten 10 Jahre auf 160 bis 180 Milliarden Euro jährlich zu steigern.
Das bedeutet, dass Deutschland in den nächsten 10 Jahren zusätzlich zu seinen derzeitigen jährlichen Militärausgaben zwischen 1 und 1,5 Billionen Euro ausgeben wird.
Deutschland und Europa wollen diese Militärausgaben aufgrund der Haltung Trumps nicht für den Kauf von Rüstungsgütern aus den USA verwenden, sondern ihre eigene Rüstungsindustrie entwickeln.
In diesem Zusammenhang werden in Europa, mit Frankreich und Deutschland im Zentrum, militärische Konsortien gebildet, um Europa in der Rüstungsindustrie weniger abhängig von den USA zu machen.
Deutschland unterstützt im Inland die Stärkung seiner Rüstungsunternehmen, allen voran Rheinmetall, durch vermehrte Käufe.
Zudem werden wirtschaftliche und politische Maßnahmen zur Förderung von Start-ups im Bereich der Rüstungsindustrie ergriffen.
Kann eine bewaffnete Deutschland an diesem Punkt, wie in der Vergangenheit, die Gefahr neuer und größerer Kriege in Europa bergen?
Die Außenpolitik Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, das unter der Führung von Konrad Adenauer wiederaufgebaut wurde und 1990 mit der von den Sowjets kontrollierten DDR vereint wurde, basierte auf drei Säulen.
Die erste war die “Selbstbeschränkung”, um einen Krieg wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg, der durch seine aggressive Haltung verursacht wurde, zu verhindern. Die zweite war die Integration in die westlichen Werte durch die Übergabe der Sicherheit unter dem Dach der NATO an die von den USA geführte westliche Allianz (“Westbindung”). Die dritte war die Förderung der europäischen Integration durch die Weiterentwicklung der europäischen Länder und der Europäischen Union.
Neben dieser von Deutschland erfolgreich verfolgten Außenpolitik ist Deutschland auch innenpolitisch eine Gesellschaft, die sich offen ihrer eigenen Geschichte stellt.
Im deutschen Bildungssystem und in den Medien werden die Gräueltaten der Nazis nach wie vor offen angesprochen.
Aus dieser Perspektive betrachtet, sollte die Wiederbewaffnung Deutschlands für Europa und für Länder wie Polen, die Tschechische Republik und Frankreich, die in der Vergangenheit sehr unter den Deutschen gelitten haben, keinen Anlass zur Besorgnis geben.
Aber ist das aus historischer Perspektive wirklich so?
Nachdem Deutschland 1871 im Unterschied zu anderen europäischen Ländern seine nationale Staatsbildung verspätet vollzog und das Deutsche Reich gründete, begann es, mit den beiden damals führenden Großmächten Europas, England und Frankreich, zu konkurrieren.
Darüber hinaus warf Deutschland, das die Auflösung des Osmanischen Reiches im Nahen Osten voraussah, ein Auge auf dessen Gebiete und sah Russland aufgrund der orthodoxen Präsenz auf dem Balkan als Hindernis auf seinem Weg in den Nahen Osten an.
Deshalb begann es auch, Spannungen mit Russland zu erleben. Aufgrund dieser imperialen Ziele nutzte Deutschland Österreich als Werkzeug und nahm die Ermordung des österreichischen Prinzen in Sarajevo durch einen serbischen Nationalisten zum Anlass, den Ersten Weltkrieg zu beginnen.
Die Niederlage in diesem Krieg vier Jahre später bremste Deutschland nicht.
Deutschland begann den Zweiten Weltkrieg, um sowohl die Bedingungen des Versailler Vertrags zu revidieren als auch seine mit Hitler unvollendet gebliebene imperiale Politik zu verwirklichen. Es kämpfte erneut gegen seine Hauptgegner im Ersten Weltkrieg, England, Frankreich und Russland, und erlitt eine noch größere Niederlage, die zur Teilung des Landes führte.
Wie erwähnt, hat sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufrichtig seiner Geschichte gestellt und bisher eine pazifistische Politik verfolgt.
Diese pazifistische Haltung Deutschlands hat jedoch den Argwohn und die Vorsicht gegenüber Deutschland innerhalb Europas nicht vollständig beseitigt.
Die Befürchtung, dass ein militärisch und politisch gestärktes Deutschland Europa ins Unglück stürzen könnte, blieb immer lebendig.
Diese besorgte Haltung war in der Tat während des Vereinigungsprozesses der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 zu beobachten.
Als die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands auf die Tagesordnung kam, waren England und Frankreich die beiden Länder, die sich der Vereinigung am stärksten widersetzten.
Diese beiden nach Deutschland bevölkerungsreichsten Länder Europas mit jeweils 60 Millionen Einwohnern widersetzten sich der Wiedervereinigung der beiden Deutschlands aufgrund der Annahme, dass die Bevölkerung Deutschlands durch die Vereinigung auf 80 Millionen ansteigen und dies das Gleichgewicht innerhalb Europas stören würde.
Deutschland überwand diesen Widerstand einerseits mit der Unterstützung der USA und andererseits durch die Akzeptanz des Übergangs zum Euro durch den Vertrag von Maastricht und die Aufgabe seiner eigenen Währung, der Deutschen Mark.
Deutschland vermied nach der Wiedervereinigung mit seiner Politik, Anlass zu Besorgnis zu geben.
Es verfolgte keine aggressive Außenpolitik und reduzierte die Zahl seiner Soldaten von 460.000 während des Kalten Krieges auf 180.000 und seine Militärausgaben von 4,5 Prozent des BIP auf 1,2 Prozent.
Es brachte sich also in eine militärisch ungefährliche Position.
Deutschland konzentrierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso wie nach dem Kalten Krieg mit aller Kraft auf die wirtschaftliche Entwicklung.
Obwohl es heute 82 Millionen Einwohner hat, ist es nach den USA mit 350 Millionen und China mit 1,4 Milliarden die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.
Darüber hinaus sparte es dank des von den USA unter dem Dach der NATO gebotenen Sicherheitsnetzes durch die Kürzung seiner Militärausgaben in den letzten 30 Jahren etwa 3 Billionen Dollar ein.
An diesem Punkt ist jedoch das deutsche Modell mit dem Wunsch der USA, sich aus Europa zurückzuziehen, zusammengebrochen.
Deutschland sah sich gezwungen, seine Militärausgaben, wie oben beschrieben, zu erhöhen, um sich und das de facto von ihm und Frankreich geführte Europa gegen das aggressive Russland zu schützen.
Der Beginn einer hochgradigen militärischen Aufrüstung Deutschlands fällt mit dem Aufstieg der extrem rechten AfD zusammen, die neonazistische Elemente enthält.
Bei den jüngsten Wahlen erreichte die AfD 20,8 Prozent der Stimmen und ist damit die stärkste Oppositionspartei. In den Umfragen liegt sie derzeit mit 26 Prozent auf Platz eins.
Die soziologische Realität zeigt, dass eine Nazi-Nachfolgepartei wie die AfD in den kommenden Jahren zumindest Regierungspartner sein wird.
Beispiele dafür sind in Europa in Ländern wie Italien und Österreich zu sehen.
Man muss kein Prophet sein, um sich vorzustellen, wie die von Deutschland in zwei blutigen Weltkriegen heimgesuchten europäischen Nachbarländer die Führung eines hochgerüsteten Deutschlands durch eine Partei mit Nazi-Ideologie aufnehmen würden.
Die Verwirklichung eines solchen Szenarios wäre nach dem Schlag Trumps gegen die westliche Allianz ein zweiter, tödlicher Schlag für diese.
Eine solche Situation würde das Ende sowohl der EU als auch der NATO bedeuten.
Die AfD befürwortet in ihrem Parteiprogramm ohnehin den Austritt aus beiden Organisationen.
Um ein solches Szenario zu verhindern, ist die unter der Führung von Friedrich Merz zu bildende Koalition zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten in diesem Sinne die letzte Chance für Deutschland und Europa.
Merz wird in dieser kritischen Phase entweder Deutschland wie einer seiner Vorgänger, Konrad Adenauer, neu gestalten und in Europa halten, oder er wird bei einem Scheitern wie der damalige Reichskanzler von Papen sein, der Hitler die Macht übergab.
In einem solchen Szenario würde in anderen führenden europäischen Ländern wie England und Frankreich der Weg für extrem rechte Parteien geebnet, was global zu Chaos führen könnte.
Gelingt es der Regierung Merz jedoch und führt dieser Erfolg dazu, dass sich Europa trotz der USA neben globalen Mächten wie Russland, China und Indien durch die Vollendung seiner inneren Integration zu einer fünften Macht entwickelt, könnte es mit seinen verteidigten demokratischen Werten ein positives Modell für die ganze Welt sein.
Sowohl diese in Deutschland zentrierte Situation in Europa als auch die anderen negativen Entwicklungen in der Welt zeigen, dass sich die Menschheit an einem kritischen Punkt befindet und dass diese Situation – leider muss man es so sagen – zu Katastrophen für die gesamte Menschheit führen kann.