

Quelle: Havadis
Foto: Freepik
Autor: Elif Asilsoy
Datum: 09/03/2025
Kategorie: Gesellschaft
Die Silhouette im Leuchtturm
Der Wind heulte um die Insel, während der alte Leuchtturm der Zeit trotzte. Seine weiß getünchten Wände hatten unzähligen Stürmen standgehalten und waren das Hoffnungslicht der Seeleute gewesen. Elias, der Leuchtturmwärter, war seit Jahren in dieser Einöde gefangen, in der Eintönigkeit des Lichts und des Meeres. Seine Haare waren ergraut, sein Gesicht von den Seewinden gegerbt. Wenn man ihn fragte, warum er ein so einsames Leben gewählt habe, sagte er mit heiserer Stimme: “Das Meer ist mein bester Freund.” Aber in Wahrheit floh er vor etwas, mehr als vor dem Meer. Er floh, vielleicht vor sich selbst.
Bis zu jener Nacht waren Elias’ Tage alle gleich. Er kontrollierte die Lampe des Leuchtturms, füllte den Brennstoff nach, putzte die Scheiben. Abends hörte er die knisternden Nachrichten aus einem alten Radio und manchmal saß er mit Blick aufs Meer und dachte ungewollt an die Vergangenheit. An seine verlorene Liebe, seine Fehler, seine verpassten Gelegenheiten… Die Einsamkeit hatte seine Seele wie eine Decke umhüllt.
Bis zu jener Nacht… Als er oben im Leuchtturm die routinemäßige Drehung der Lampe beobachtete, bemerkte er aus dem Augenwinkel etwas. Auf dem Meer, zwischen den Wellen, eine undeutliche Schwärze. Zuerst dachte er, seine Augen wären müde, aber die Schwärze erschien jede Nacht zur gleichen Zeit, am gleichen Ort. Sie ähnelte einem Menschen, aber auch wieder nicht. Als wäre sie aus dem Meer geboren, ein Lichtphantom.
Elias versuchte zunächst, diese Schwärze zu ignorieren. “Die Hirngespinste eines alten Mannes”, dachte er. Aber die Schwärze wurde jede Nacht deutlicher. Als wollte sie Elias etwas sagen.
Schließlich gab Elias seiner Neugier nach. Er durchsuchte die alten Aufzeichnungen des Leuchtturms, erforschte die Geschichte der Insel. Vielleicht war diese Schwärze die Spur einer vergangenen Tragödie. Vielleicht der Geist eines auf See verlorenen Schiffes. Aber er fand nichts.
Die Schwärze begann, Elias’ Geist zu beherrschen. Er konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, beobachtete ständig das Meer. Er begann, Selbstgespräche zu führen, imaginäre Dialoge zu führen. “Wer bist du?”, flüsterte er dem Wind zu. “Was willst du von mir?”
Eines Nachts fasste er seinen ganzen Mut zusammen und fuhr mit seinem kleinen Boot aufs Meer hinaus. Er ruderte zu der Stelle, an der die Schwärze erschien. Je näher er kam, desto deutlicher wurde die Schwärze. Ja, es war eine menschliche Gestalt. Aber gleichzeitig war es auch eine Leere. Wie eine Silhouette, ein Schatten…
Elias streckte seine Hand nach der Silhouette aus. Gerade als er sie berühren wollte, verschwand die Silhouette plötzlich. Elias blickte sich verwirrt um. Die Wellen schlugen an das Boot, als wäre nichts geschehen.
Von diesem Tag an sah Elias die Silhouette nie wieder. Aber das Geheimnis der Silhouette lebte in seinem Geist weiter. Elias hatte sich seiner eigenen Einsamkeit gestellt. Die Silhouette war vielleicht eine Spiegelung seiner inneren Leere. Vielleicht die Zusammenfassung seiner verlorenen Liebe, seiner verpassten Gelegenheiten, seiner nie gelebten Leben.
Elias’ Geschichte hallt zwischen den Mauern der Insel wider. Doch dieses Echo ist nicht nur auf dieser einsamen Insel zu hören, sondern auch in den Städten der modernen Welt. Im Schatten der Wolkenkratzer, unter den Neonlichtern, leben Millionen von Menschen in der Menge einsam. Die Technologie verbindet die Menschen auf paradoxe Weise und trennt sie gleichzeitig voneinander. Der Mensch entfernt sich von seiner Natur, entfremdet sich und wird zu einem “einsamen Lebewesen”.
Ist diese Einsamkeit des modernen Zeitalters also ein unvermeidliches Schicksal? Tragen wir alle eine Silhouette in uns? Sind wir Elias’, die im Licht des Leuchtturms versuchen, das Geheimnis dieser Silhouette zu lüften?
Vielleicht liegt die Antwort in Elias’ Geschichte. Elias wagt es, die Silhouette zu berühren. Er versucht, diese Leere zu füllen, dieser Einsamkeit zu entkommen. Ob es ihm gelingt, ist fraglich, aber er hat es zumindest versucht.
Darin liegt auch eine Lehre für den modernen Menschen. Einsamkeit ist oft ein Gefängnis, das wir selbst geschaffen haben. Der Weg aus diesem Gefängnis führt über das Einreißen der Mauern. Die Mauern einzureißen, erfordert Mut. Mut, anderen Menschen die Hand zu reichen, sich mit ihnen zu verbinden, in unsere eigene Innenwelt zu blicken.
Vielleicht sollten wir alle zu unserem eigenen Leuchtturm zurückkehren und uns der Silhouette in uns stellen. Zu versuchen, zu verstehen, was diese Silhouette darstellt, ist vielleicht, die Sehnsucht nach einer verlorenen Liebe, einer verpassten Gelegenheit, einem nie gelebten Leben zu spüren.
Aber diese Konfrontation ist auch ein Licht der Hoffnung. Wenn das Geheimnis der Silhouette gelüftet ist, verschwindet vielleicht auch die Einsamkeit. Vielleicht füllt sich diese Leere. Vielleicht verbindet sich der Mensch wieder mit seiner Natur und mit anderen Menschen.
Das ist kein einfacher Prozess. Aber es ist auch nicht unmöglich. Was wir brauchen, ist ein wenig Mut, ein wenig Bewusstsein und vor allem Hoffnung. Vergessen wir nicht, dass selbst nach der dunkelsten Nacht die Sonne immer aufgeht. Und diese Sonne ist vielleicht der Vorbote eines neuen Anfangs, einer neuen Verbindung, einer neuen Hoffnung.